Wie funktioniert systemisches Denken?

Es gibt Menschen, die denken systemisch, ohne dass ihnen das bewusst ist. Für sie ist es ein „völlig normales“ Denken, mit dem sie jedes Problem lösen, das sich ihnen stellt. Sie könnten auch nicht erklären, wie es funktioniert. Dazu gehören alle Menschen, die ihr Leben mit Erfolg meistern, ohne allzu große Scherben bei anderen Menschen zu hinterlassen. Man findet sie prinzipiell in allen Völkern der Erde und in allen Berufsgruppen. Da es zur Fähigkeit des systemischen Denkens keiner formellen Schulung bedarf, muss es offenbar angeboren und/oder durch Lebenserfahrung erwerbbar sein.

Daneben gibt es viele Menschen, die nur zeitweise systemisch denken, wie z.B. im Privatleben oder beim Ausüben ihrer Lieblingssportart. In anderen Lebensbereichen jedoch, wie z.B. im Berufsleben oder vor laufender Kamera, reduzieren sie ihre Denkweise vom systemischen zum ausschnitts- oder detailorientierten Denken. Sie verlieren den Überblick und denken nur noch in Details, wie Zahlen, Daten, Angsterinnerungen, Vorschriften, Gegenstände, u.v.a.m.

Systemisches Denken setzt aber voraus, dass alle Fähigkeiten des menschlichen Gehirns genützt werden. In dem Moment jedoch, wo der Mensch – ob bewusst oder unbewusst, freiwillig oder unfreiwillig –  auf einen Teil seiner Denkfähigkeiten verzichtet, kann er nicht mehr systemisch denken. Dann riskiert er Beschränktheit und Denkfehler, die ihm Verständigungsschwierigkeiten, Misserfolg, Verlust, Unfall oder gar den Tod bescheren können. Dieser Verzicht auf einen Teil der Denkfähigkeit findet genau dann statt, wenn er sich auf eine spezifische Denkart beschränkt. Das geschieht z.B. beim logischen Denken, oder beim kaufmännischen,  analytischen oder das naturwissenschaftlichen Denken, während dessen die anderen Arten zu denken ignoriert werden. Diese Entscheidung für eine spezifische Denkart verspricht zunächst gewisse Vorteile, wie z.B. Zeitersparnis, Bequemlichkeit, Autorität, Wohlwollen, kurzfristigen Gewinn. Sie hat aber auch unerwünschte Neben-, Fern- und Spätwirkungen, die – s.o. – von Nachkorrekturen bis zum Systemversagen reichen. Wer diese negativen Folgen vermeiden will, muss systemisch denken.

Wenn man ein Problem mit systemischem Denken lösen will, aber nicht weiß, wie es geht, muss man einen mehrstufigen Lernprozess durchlaufen (oder ggf. bereits durchgelaufen haben), bevor man sich mit der eigentlichen Problemlösung beschäftigt:

  1. Sich selbst erkennen
  2. Das System erkennen
  3. Das Problem erkennen
  4. Die Lösung erkennen
  5. Den Zeitbedarf erkennen

 

1. Sich selbst erkennen

Die erste Stufe des Lernprozesses ist von vorbereitender Art. Man kann sie bezeichnen als ein Sich-seiner-selbst-bewusst-werden, als selbstkritische Betrachtung oder als Selbsterkenntnis. Sie besteht aus folgenden Schritten:

  • Sich bewusst machen, welche Denkart auf Grund der übergeordneten kulturellen Zugehörigkeit als normal und selbstverständlich gilt; das könnte ein westliches Denken sein, ggf. ein abendländisches, oder evtl. noch spezifischer: ein mitteleuropäisches Denken, das seit vielen Generationen in der Familie gepflegt wurde.
    • Sich bewusst machen, welche spezifischen Stärken und Schwächen dieses Denken hat.
    • Gegenüber stellen, welche Stärken und Schwächen andere übergeordneten Denkarten besitzen, wie z.B. nordamerikanisches oder östliches bzw. fernöstliches Denken.
  • Sich bewusst machen, welche Prägungen das eigene Denken durch das gesellschaftliche Milieu erfahren hat, in dem man sich befindet, wie z.B. ein hanseatisches oder ein kleinbürgerliches Milieu, ein Künstler- oder ein Beamtenmilieu.
    • Sich bewusst machen, welche spezifischen Stärken und Schwächen dieses Denken hat.
    • Gegenüber stellen, welche Stärken und Schwächen andere milieubedingte Denkarten besitzen, wie z.B. ein aristokratisches oder ein avantgardistisches Denken.
  • Sich bewusst machen, welche individuellen Denkarten man sich angeeignet hat, wie durch die elterliche Erziehung und familiären Bedingungen, durch die Religionszugehörigkeit, durch die schulische und berufliche Ausbildung und schließlich durch etwaige biografische Besonderheiten. Das könnte zusammenfassend z.B. folgende Denkart ergeben: eine eher pessimistische Grundhaltung, verbunden mit einem katholischen Weltbild, einem Wertekanon aus Fleiß, Gehorsam, Ehrlichkeit und Bescheidenheit, sowie einer naturwissenschaftlichen /analytischen Denkweise.
    • Sich bewusst machen, welche spezifischen Stärken und Schwächen dieses Denken hat, siehe Innere Antreiber und Bremser.
    • Die Zwänge und Freiheiten im eigenen Denken erkennen, siehe Zwänge und Freiheiten im Denken.
    • Gegenüber stellen, welches Spektrum an anderen individuellen Denkarten existiert, wie optimistisches, fatalistisches, intuitives oder laterales Denken, u.v.a.m.
  • Auf die innere Stimme hören.

Es ist durchaus möglich, dass sich die Lösung für das Problem bereits während dieser Denkprozessschritte ergibt. Alleine die Bereitschaft, sein bisheriges Denken als nicht unbedingt ideal zu erkennen und offen für andere Denkarten  zu sein, kann bereits die Lösung für das Problem offenbaren (Zitat von A. Einstein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“).

 

2. Das System erkennen

Erst wenn die verschiedenen alternativen Denkarten bewusst oder zumindestens abrufbar sind, sollte man sich mit dem eigentlichen Problem und vor allem seinem System befassen:

  • Gedanklich einen Schritt zurücktreten, Distanz und Überblick verschaffen, hinterfragen:
    • Was ist das für ein System, in dem das Problem entstanden ist?
    • Was ist das übergeordnete / benachbarte / nachfolgende System?
    • Welche Entwicklungen / Trends durchläuft das System?
  • Die drei Metaebenen des Systems betrachten (vgl. Maslow’sche Bedürfnispyramide)
    • physische Ebene (Körper, Technik, Daten)
    • psychische Ebene (Seele, Organisation, Beziehungen)
    • philosophische Ebene (Geist, Strategie, Werte, Sinn)
  • Das Wesentliche des Systems erkennen
    • Welche Struktur hat das System? (z.B. hinsichtlich der Form: Automat, Mensch-Maschine, Programm, Hierarchie, Schwarm, Netz, Kausalkette, Blackbox, etc.)
    • Welche Eigenschaften hat das System? (z.B.: wachsend, ungeregelt, grenzdurchlässig, ortsgebunden, berechenbar, bürokratisch, etc.)
    • Was sind die wichtigsten Prozesse im System? (Kommunikation, Materialfluss, Energieumwandlung, Zustandsbedingungen regulieren, Kreativität wecken, Ordnung schaffen, etc.)
    • Was sind die systemerhaltenden Energien / Kräfte?
    • Wem schadet das System?
    • Wem nützt das System?
    • Welche Werte liegen dem System zugrunde? (Leben, Liebe, Lebensfreude, Zuversicht, Friede, Geld, Schönheit, Nahrung, Genuss, Gesundheit, Freundschaft, Sicherheit, Macht, Gehorsam, Wissen, Weisheit, Image, Ethik, Glaube, Tugend, Ehre, Freiheit, Besitz, Qualität, Boden, Wasser, Luft, Naturschutz, Stille, Kunst, Muse, etc.)
    • Welchen Sinn hat das System? (Art erhalten, Freude machen, Gutes tun, Sicherheit schaffen, materiellen oder immateriellen Reichtum vermehren, Ressourcen erschließen, Mobilität schaffen, etc.)
  • Die Stärken und Schwächen des Systems betrachten
    • Stabilitätseigenschaften (stabil, instabil, metastabil, grenzstabil)
    • Vulnerabilitäten (Verletzbarkeiten, Abhängigkeiten, Sicherheitslücken, Engpässe)
    • Resilienzen (Widerstandsfähigkeit, Fehlertoleranz, Selbstheilungskräfte)

Erst wenn man das System verstanden hat, sollte man sich an das Lösen des Problems heranwagen. Wer meint, dass es auch anders funktioniert, dem ergeht es wie dem, der rechnen will, ohne das Dezimalsystem verstanden zu haben, oder dem, der über einen Wertpapierverlust klagt und das Finanzsystem nicht durchschaut.

 

3. Das Problem erkennen

Wenn sich die Lösung für das Problem bis jetzt noch nicht abzeichnet, dann liegt das oft daran, dass das Problem noch nicht ausreichend klar ausgedrückt worden ist, z.B. wegen Ausweichen, Haarspalterei, Flüchtigkeit, Scham, Tabu.

  • Die eigene Beziehung zum System klären (z.B.: Harmonie, Zielkonflikt, Problemursache, Rettung, Verstärkung, Indifferenz, Abhängigkeit, Business, Spiel, etc.).
  • Den persönlichen Bezug, den eigenen Beitrag zur Entstehung des Problems klären (Sehnsucht, Angstgefühle, Rachebedürfnis, etc.).
  • Das Problem in einem Satz benennen. Oft bedarf es dazu eines „Sich-selbst-überwindens“.
  • Die Wichtigkeit des Problems hinterfragen und relativieren.
  • Die Disharmonien zwischen den drei Metaebenen des Problems suchen.

4. Die Lösung erkennen

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Lösung des Problems schon offenbar geworden ist, während man in dem vorstehenden Denkprozess bis hierher gekommen ist. Möglicherweise hat man dabei die nachfolgenden Schritte bereits vorgezogen. Aber es ist sinnvoll, folgende Schritte trotzdem zu gehen, auch wenn man glaubt, die Lösung schon gefunden zu haben. Möglicherweise ergibt sich dann eine neue, bessere bzw. alternative Lösung.

  • Den Standpunkt wechseln
    • Wie denkt mein Partner / Gegenüber / Kritiker / Gegner über das Problem?
    • Wie denkt ein Unbeteiligter?
    • Anderes Fachwissen hinzuziehen und ggf. anerkennen.
  • Die Zeitmaßstäbe wechseln
    • Wie würde ich mich entscheiden, wenn ich nur noch eine Woche zu leben hätte?
    • Wie würde ich mich rückblickend – wenn ich eines Tages auf dem Sterbebett liegen würde – entschieden haben wollen?
    • Welche Entscheidung würden meine Enkelkinder eines Tages für gut heißen?
    • Eine Nacht darüber schlafen.
  • Alternative Lösung benennen (Paradoxe Intervention, Worst Case Szenario und Best Case Szenario entwickeln, Gute-Fee-Wunscherfüllung vorstellen, In-die-Höhle-des-Löwen-gehen, etc.)
  • Welche Entwicklung / Reifung erfährt meine Persönlichkeit, wenn ich die Lösung des Problems in die Tat umsetze?

5. Den Zeitbedarf erkennen

Diese Vielzahl von Denkoperationen bedarf eines hohen Informations- und Zeitaufwands von Tagen bis Wochen, wenn man „bei Null anfängt“. Ein derartiger Aufwand kann sich aber durchaus lohnen, wenn es sich um eine Entscheidung handelt, die das ganze weitere Leben (einer Zweierbeziehung, einer Partei, eines Unternehmens, etc.) prägt.

Mit einigen Vorkenntnissen und etwas Übung lässt sich dieser Prozess auf Stunden bis Minuten verkürzen. Das erscheint zunächst immer noch viel zu sein. Man darf aber nicht übersehen, dass man mit einer fachspezifischen Denkweise, wie z.B. mit analytischem Denken, u.U. ebenfalls eine lange Zeit benötigt, um eine Entscheidung zu fällen. Letztlich kennt fast jeder Mensch Situationen, wo er eine Entscheidung hinauszögert, weil er unbewusst spürt, dass er noch nicht alle „entscheidenden“ Argumente beisammen hat, um ein sicheres Endurteil fällen zu können. Deshalb ist es möglich, dass man mit systemischem Denken schneller entscheiden kann, als mit z.B. rein logischem oder fachspezifischem Denken.

Es gibt allerdings Situationen im Leben, in denen keine Zeit für langes Denken zur Verfügung steht. Dazu gehören nicht nur außergewöhnliche Notsituationen, wie eine akute Lebensgefahr durch Sturz, menschliche Gewalt oder Naturgewalten. Auch in Alltagssituationen fehlt wiederholt die Zeit zum systemischen Denken, wie bei plötzlich auftretenden Hindernissen beim Autofahren oder bei dem Wunsch nach Schlagfertigkeit in Diskussionen.

Wer jedoch systemisches Denken zu seiner „normalen“ Denkart gemacht hat und ausreichend Übung darin hat, der benötigt keinen spürbaren Zeitaufwand für schnelle systemische Entscheidungen. Gute Beispiele hierfür sind Spitzenfußballer, Formel-1-Piloten oder Notärzte.