Die Qualität des Denkens wird bestimmt von materiellen und immateriellen Zwängen und Freiheiten. Sie bestimmen die Möglichkeiten des Denkens, insbesondere die Bandbreite zwischen Beschränktheit und Genialität.
Zwänge
Unter Zwängen sollen hier verstanden werden:
- Naturgesetze, wie Schwerkraft, Erdumdrehung, Sonnenlichtspektrum, E=mc²
- Naturgewalten, wie Erdbeben, Tsunamis, Extremwetterereignisse
- Begrenztheit von Ressourcen
- mathematische Gesetze
- ethische, moralische und religiöse Vorgaben
- Weltanschauungen, Dogmen, Paradigmen, Tabus, Killerargumente
- staatliche Gesetze
- technische Regeln, wie metrische Maße, Rechtsgewinde, 230 Volt und 50 Hertz, Fail-Safe-Prinzip
- betriebswirtschaftliche Forderungen, wie Sicherstellen der Liquidität, Maximierung der Rendite
- direkte und indirekte Sanktionen in Hierarchien
- Gebrauch und Missbrauch der Rechte der Stärkeren, wie in Kriegen oder bei Gewaltkriminalität
Je mehr Zwänge ein Mensch wahrnimmt und sich ihnen anpasst, desto beschränkter wird sein Denken. Je mehr Freiheiten er erkennt und nützt, desto genialer können seine Gedanken und Taten werden.
Freiheiten
Beispiele für Freiheiten sind:
- persönliche Freiheiten, wie Vollbesitz der körperlichen und geistigen Fähigkeiten, freier Wille, innere Souveränität
- Phantasie, Kreativität, künstlerische Freiheiten
- öffentliche Grundrechte, wie Wahl-, Meinungs-, Presse- oder Religionsfreiheit
- staatliche Souveränitäten
- freie Marktwirtschaft
- offene Landesgrenzen
- Erweiterungen der menschlichen Fähigkeiten durch technische Mittel, wie Werkzeuge, Fahr- und Flugzeuge, Röntgen, Mobilfunk, Internet.
Zwänge und Freiheiten sind für jedes System individuell verschieden. Je nach dem, in welchem System ein Mensch aufwächst, wird sein Denken nach dem Muster dieser Zwänge und Freiheiten geprägt und ihm i.d.R. angepasst.
Hinterfragen von Zwängen
Die meisten Zwänge werden von den Menschen unreflektiert hingenommen, nach dem Motto: „So ist das halt im Leben.“ Sie werden als sehr real empfunden und gelten als unüberwindbar. Darunter befinden sich jedoch Zwänge, die nur nominal (den Worten nach) existieren, die aber durchaus überwindbar sind. Im systemischen Denken ist es sehr wichtig zu hinterfragen, welche Zwänge wirklich real sind und welche nur nominal, also überwindbar sind. Wer diese Zwänge überwindet, schafft sich neue Freiheiten, die wichtig für das systemische Denken sind.
Typische Alltagsbeispiele für nominale – und möglicherweise unnötige – Zwänge sind die sog. Killerargumente:
- „Das ist viel zu teuer.“
- „Das geht sowieso nicht.“
- „Das ist falsch.“
- „Das haben wir alles schon mal versucht.”
- „Das haben wir schon immer so gemacht.”
- „Das schaffen wir nie.”
- „Es gibt keine Alternative.”
- „Sie sind zu jung.”
- „Alles graue Theorie.”
- „Da werden wir nur Schwierigkeiten kriegen.”
- „Dafür ist die Zeit noch nicht reif.”
- „Dafür sind wir nicht zuständig.”
- „Das bringt am Ende doch nichts ein.”
- „Das geht uns nichts an.”
- „Das haben schon fähigere Leute als Sie nicht lösen können.”
- „Das ist lächerlich.”
- „Das kann ja gar nicht funktionieren!”
- „Das kauft Ihnen keiner ab.”
- „Davon hast du keine Ahnung.”
- „Haben Sie überhaupt einen Hochschulabschluss?”
- „Du kannst nicht gegen den Strom schwimmen.”
Wer solche Killerargumente vorbringt, versucht, die Freiheit des Denkens in Diskussionen zu unterbinden. Wer sich nicht davon beeindrucken lässt, hat gute Chancen, die Lücken im Denken des Benutzers von Killerargumenten zu finden. Letzterer hat offenbar keine besseren Argumente, um seinen unsicheren Standpunkt zu verteidigen.
Hinterfragen von Freiheiten
Trotz der vielen Freiheiten, welche die meisten Bürger in westlichen Industriegesellschaften „genießen“, empfinden sie sich nicht wirklich frei. Die meisten fühlen sich bevormundet, fremdbestimmt, unter Druck, Stress, oder gar erschöpft und ausgebrannt. Deshalb ist das Hinterfragen der Freiheiten genauso wichtig wie das Hinterfragen der Zwänge. Es gibt schließlich eine Reihe von Freiheiten, die zwar akzeptiert oder gar hochgelobt werden, die aber nur nominal welche sind. Sie sind nur wenig förderlich für systemisches Denken. Beispiele sind:
- Die Meinungs- und Redefreiheit gilt als eine der wertvollsten Errungenschaften der Zivilisation. Darauf können demokratisch legitimierte Rechtsstaaten im Vergleich zu Diktaturen auch sehr stolz sein. Das soll jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Freiheiten nicht völlig frei sind, sondern durchaus ihre Einschränkungen haben. Manche davon sind leicht zu akzeptieren, wie z. B. der Schutz von persönlicher Ehre, von Betriebsgeheimnissen, von Sittlichkeit oder der Schutz der Jugend. Etwas diffizil wird die Redefreiheit bei Kritik an staatlichen Institutionen (Staatsoberhäupter, Gerichte, etc.). Am stärksten wird die Meinungsfreiheit im Alltag eingeengt, wenn die Einhaltung der Schweigespirale (soziale Anpassung an die öffentliche Mehrheitsmeinung) gefordert wird.
- Viele Bürger in westlichen und demokratischen Staaten sind besonders stolz auf ihre Presse- und Informationsfreiheit. Es gilt jedoch zu bedenken, dass die Schlagzeilen der wichtigsten Medien unisono geprägt werden durch sechs führende westliche Nachrichtenagenturen. Dadurch können vereinheitlichte Weltanschauungen und Ängste erzeugt werden, wie z.B. bezüglich Schweinegrippe, Burnout, Geldwertverfall oder Terrorismus. Es können aber auch vereinheitlichte Sehnsüchte erzeugt werden, wie z. B. nach perfekter Schönheit, nach heiler Welt oder nach schnellem Gewinn. Wer jedoch diesem geistigen Mainstream widerspricht, wird – ähnlich wie in der Schweigespirale – entweder missachtet, als inkompetent erklärt oder als Verschwörungstheoretiker abgestempelt.
- Die Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen politischen Parteien existiert in manchen Staaten nur vordergründig. De facto jedoch liegt dort die Regierungsgewalt in den Händen einer Partei oder Interessengruppe.
- Wirtschaftsunternehmen veröffentlichen in ihren Leitlinien immer häufiger, dass Meinungsfreiheit, Meinungsvielfalt, Kreativität und Querdenken zu den wichtigsten Ressourcen von Unternehmen zählen. Diese Freiheit gilt in der Praxis jedoch nicht für alle Bereiche eines Unternehmens. Sobald die vorhandenen Machtstrukturen durch die Freiheit des Denkens gefährdet werden, wird diese Freiheit durch das Recht des Stärkeren eingeschränkt.
- Die freie Marktwirtschaft ermöglicht es dem Konsumenten im Prinzip, sich frei zu entscheiden zwischen Produkten verschiedener Konkurrenten. Dem Konsumenten ist jedoch häufig nicht bewusst, dass er in seiner Konsumentscheidung keine echte freie Wahl hat. Dies gilt vor allem dann, wenn Moden, Monopole, Kartelle und Strategie- und Preisabsprachen den Markt beherrschen. Dann werden nicht nur Aussehen, Funktionsweise, Qualität und Preis der Produkte vereinheitlicht, sondern auch die Nachfrage. Diese Vereinheitlichung reicht von Grundnahrungsmitteln über Energie bis zur Bildung.
- In einer Konsumgesellschaft muss für manche Freiheit ein zu hoher Preis bezahlt werden, der an das Gegenteil der Freiheit erinnert: an Sklaverei. Z.B. muss die Freiheit, sich mit dem Privat-Pkw überall hin bewegen zu können, mit einem enormen volkswirtschaftlichen Aufwand und ökologischen Folgekosten erkauft werden. Gleichzeitig werden die Infrastrukturen für öffentliche Verkehrsmittel – eine andere Form von Freiheit in der Mobilität – zurückgebaut. Für manche Nutzer von öffentlichen Verkehrsmitteln, wie z.B. Pendler, bedeutet dieser Rückbau einen Zwang zum Umsteigen auf das Automobil.